Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe. Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., XIV. Band. Der Reichstag zu Nürnberg 1543 bearbeitet von Silvia Schweinzer-Burian, mit Vorarbeiten von Friedrich Edelmayer
Als alle Bemühungen des Königs, eine Einigung zwischen den Religionsparteien zu erzielen und die Zustimmung der Protestanten zur Türkenhilfe zu erreichen, nichts fruchteten, blieb ihm nichts anderes übrig, als am Nachmittag des 23. April den Reichsabschied (Nr. 404) in der Reichsversammlung ohne die Zustimmung der Protestanten verlesen zu lassen. Der Straßburger Gesandte Jakob Sturm machte in seiner Schlussrelation interessante Beobachtungen rund um die Verlesung des Reichsabschieds1. Er berichtete, dass der König die Versammlung rasch verlassen habe, um die Rede und Protestation des kursächsischen Kanzlers nicht anhören zu müssen; vielmehr riet er ihm zur schriftlichen Übergabe des Aktenstücks. Nach dem Abgang des Königs wurden dem Mainzer Kanzler Dr. Jonas die Protestationen der Augsburger Konfessionsverwandten (Nr. 408), aller alt- und neugläubigen Reichsstädte (Nr. 407), der oberrheinischen Kreisstände (Nr. 409) und einiger anderer Reichsstände überreicht. Bemerkenswert ist, dass sich die Namen mehrerer Reichsstände, die den Abschied nicht bewilligt und dagegen protestiert hatten, unter dem Reichsabschied finden. Laut dem Bericht Sturms legten die Gesandten Nürnbergs und Ulms gegen dieses Vorgehen Beschwerde beim Mainzer Kanzler ein. Dieser gab ihnen die Auskunft, dass er die Namen aller in der Mainzer Kanzlei akkredidierten Reichsstände unter den Reichsabschied gesetzt habe2. Auf die Frage Sturms an den Kanzler, warum er die Namen von Ständen bzw. Gesandten in den Reichsabschied aufnehmen würde, die diesen ablehnten, antwortete Dr. Jonas, man könne nicht wissen, wann die Stände wieder gehorsam würden. Darauf merkte Sturm an, dass ein „unpillich, ungleich“ Reichsabschied, der früheren Abschieden widerspreche, von den Protestanten nicht angenommen werden könne und nicht verbindlich sei, weshalb die Nichtannahme eines solchen Abschieds keinen Ungehorsam darstelle.
Aus dem Bericht Sturms geht deutlich hervor, wie weit der durch die Reformation in Gang gesetzte Prozess der konfessionellen Spaltung das tradierte Verständnis von Recht, Ordnung und Billigkeit verändert und zu einer anderen Rechtsauslegung geführt hatte, wodurch die Rechts- und Friedensordnung des Reiches in Frage gestellt wurde. Die namentliche Nennung der Reichsstände und ihrer Gesandten zu Ende des Reichsabschieds ist im Falle des Reichstags von 1543 nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung zum Reichsabschied, da sich mehrere Protestierende unter den Subskribenten befinden. Vermutlich in dem Bestreben, eine größere Akzeptanz des Reichsabschieds vorzutäuschen, ließ der Mainzer Kanzler die Namen der in der Mainzer Kanzlei Akkreditierten in den Abschied setzen, unabhängig davon, ob sie diesem zugestimmt hatten oder nicht. Eine einheitliche Linie bei der Auswahl der im Abschied angeführten Reichsstände ist nicht zu erkennen. So scheint Jakob Sturm trotz seines Protests im Nürnberger Reichsabschied von 1542 auf, während sein Name 1543 fehlt. Die Oberhäupter des Schmalkaldischen Bundes, die den Protest gegen den Reichsabschied anführten, sowie einige andere Bündner fehlen hingegen unter dem Abschied.
Eine weitere Besonderheit des Reichsabschieds von 1543 ist, dass wegen der geschlossenen Ablehnung durch die Protestanten und durch alle Reichsstädte kein offizieller zeitgenössischer Druck dieses Dokuments vorhanden ist, wie in der Städteregistratur festgehalten3.
Der Reichsabschied war nicht nur für die Protestanten, sondern vor allem auch für König Ferdinand eine Enttäuschung. Die erwartete Offensivhilfe zur Aufstellung eines Heereszuges gegen die Türken hatte er von den altgläubigen Reichsständen nicht erhalten. Die bewilligte Defensivhilfe von 20 000 Mann zu Fuß und 4000 Reitern sollte zur Befestigung der Grenzen und Pässe dienen. Im Notfall war der weitere Zuzug von fünf Reichskreisen geplant, über dessen Finanzierung durch Vertreter derr Reichskreise und der ferdinandeischen Erbländer und Königreiche auf einer Versammlung in Passau am 15. Juni beraten werden sollte. Der Papst sollte von den Reichsständen um eine Unterstützung in Form der Entsendung von 5000 Soldaten gebeten werden (Nr. 101). Der König selbst sagte eine entsprechende Hilfe seiner Erblande zu. Da die Ringerung der Anschläge und der finanzielle Ausgleich unter den Reichskreisen in Nürnberg wieder nicht zustande gekommen war, sollten die Reichskreise bis spätestens 15. Juli Versammlungen abhalten und danach den Reichsständen Bericht erstatten. Von jedem Reichsstand sollten ab 15. Mai drei Raten von jeweils zwei Römermonaten in den Legstätten erlegt werden. Damit die Reichsstände die Türkenhilfe nicht aus den Erträgen ihrer Kammergüter bestreiten mussten, waren sie befugt, ihre Untertanen auf Basis des Gemeinen Pfennigs zu besteuern. Nach weiteren Bestimmungen über die Leistung der Türkenhilfe folgen in den §§ 32–38 des Reichsabschieds geringfügig modifiziert die Artikel zu Friede und Recht und zur Causa Braunschweig, auf die sich der König mit den Altgläubigen am 18. April geeinigt hatte (Nr. 179).
Betrachtet man die Ergebnisse zusammenfassend, so kann der Reichstag als gescheitert betrachtet werden. Ein Kompromiss zwischen Alt- und Neugläubigen erwies sich trotz mehrfacher Vermittlungsversuche des Königs und der kaiserlichen Räte wegen der zunehmenden Radikalisierung und Starrheit der Konfessionsparteien als unmöglich. Der in Regensburg 1541 und in Speyer 1542 beschrittene Weg der geheimen Nebenversicherung zum Reichsabschied war für die Protestanten nicht mehr gangbar, da sie auf der Aufnahme der Regensburger Deklaration in den Reichsabschied bestanden. Die altgläubigen Reichsstädte fühlten sich in ihren Beschwerden über die Türkenhilfe, in ihren wirtschaftlichen Interessen und in ihrem Kampf um Session und Stimme weitaus mehr den evangelischen Städten verbunden als der konfessionellen Solidarität mit den altgläubigen Reichsfürsten; sie trugen daher den Protest gegen den Reichsabschied mit. Probleme wie der Konflikt um Geldern oder die Causa Braunschweig blieben ungelöst und wurden bis zur Ankunft Kaiser Karls V. vertagt. Die Protestanten waren mit ihrer Taktik absoluter Geschlossenheit zwar erfolgreich, erreichten aber trotzdem nicht die gewünschten Konzessionen im Bereich von Friede und Recht. Die kompromisslose Haltung beider Religionsparteien trug dadurch weiter zur Spaltung und Polarisierung im Reich bei, die bald darauf nicht nur zum Krieg in Jülich führte, sondern in weiterer Folge auch den Weg für den Religionskrieg Karls V. gegen die Protestanten ebnete.